Doktor Jekyll & Mister Hyde
Manche Geschichten erreichen eine Bedeutung über ihren Zeitbezug hinaus, da sie etwas Universelles über die Natur des Menschen aussagen. Zu dieser Art Literatur zählt die Novelle Doktor Jekyll und Mister Hyde von Robert Louis Stevenson (1850-1894), die jener 1888 verfasste. Gerade wegen der Allgemeingültigkeit eines solchen Stoffes ist die Versuchung groß, eine Interpretation in einem anderen Zusammenhang zu verfassen, um Aktualität zu verdeutlichen. Dennoch haben Kramsky und Mattotti sich entschieden, ihre Variante in der Vergangenheit zu belassen. Auf der Suche nach einem - dem Motiv der Zerrissenheit des menschlichen Charakters - angemessenen Umfeld verlegen sie die Handlung an einen Ort, der zwar unbenannt bleibt, aber stark an das Berlin der dekadenten Zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts erinnert. Dies erreicht Mattotti, indem er seine eigenen Pastellbilder in Anleihen an die Kunst jener Zeit einbettet. Ein Vorgehen, das bis zum Zitat reicht. Das Experiment gelingt. Die Verzweiflung des Doktor Jekyll über seine Unfähigkeit, seine Triebe und Gelüste nach Ausschweifung und Macht zu kontrollieren, spiegeln sich in den gequälten Anatomien von Dix, Beckmann und Grosz. Deren Kritik und Darstellung an Verfall und Doppelmoral der Gesellschaft wird zur Kulisse für Jekylls eigenen Niedergang. Folgerichtig wird die Figur des Hyde zu einem Symbol für den aufkommenden Faschismus. Aber Mattotti geht noch darüber hinaus: Die Architektur der Bildhintergründe schwankt - je nach Fortgang der Erzählung - zwischen der Gefühlskälte eines Edward Hopper, der Auflösung der Kubisten und der Dynamik des Futurismus. Auch erinnern die engen Gassen des Dekors oft an den expressionistischen Film "Das Cabinet des Doktor Caligari". All diese Anspielungen übertüncht Mattotti mit seinem eigenen Stil, so dass die Zitate wieder in den Hintergrund treten können. Er verbirgt seine Annäherung an den Stoff in den Illustrationen. Der eher spärliche Text, der nahe an der Vorlage ist, dient meistens nur dem Fortgang der nebensächlichen Handlung. Der Comic ist ein bravouröses Lehrstück über den Allgemeinplatz, dass Bilder mehr aussagen können als Worte. (tr)
Doktor Jekyll & Mister Hyde
Text: Lorenzo Mattotti und Jerry Kramsky
Zeichnungen: Lorenzo Mattotti
Carlsen-Verlag, Hamburg, 2002
64 Seiten, Farbe, HC
20 Euro
(Rezension aus Xoomic Nr. 2/Juni 2002)
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