Anita
Beim ersten Eindruck dominieren die Bilder. Die oftmals ganzseitigen Illustrationen entwickeln eine Kraft, die sofort fasziniert, und drängen die kurzen Textpassagen an den Rand. Die farbintensiven Arbeiten zeigen mit ihren reliefartigen Strukturen deutlich die Arbeitsspuren des Malers und es überrascht nicht, dass Stefano Ricci eher in der Kunstszene denn im klassischen Comic beheimatet ist. Der 1966 in Bologna geborene Künstler kann auf eine Reihe erfolgreicher Einzelausstellungen zurückblicken, hat Plakate und Bühnenbilder entworfen. Nach ersten Kurzgeschichten legt er 1994 mit "Tofu" (dt. in STRAPAZIN Nr.34) sein erstes Comicalbum vor. "Anita" entstand für das italienische Frauenmagazin GLAMOUR. Geschrieben wurden die zwölf Episoden von Gabriella Giandelli, einer Designerin, die bereits mehrere Comics veröffentlicht hat. Zwar können die in Form von Tagebucheintragungen verfassten Folgen unabhängig voneinander gelesen werden, doch stehen sie in einem inneren Zusammenhang.
Anita arbeitet als Kellnerin. Ricci und Giandelli zeichnen das Bild einer introvertierten jungen Frau, zeigen Momentaufnahmen aus ihrem Leben. Dabei überwiegen kleine, fast banale Erlebnisse: Ein alter Schulfreund schaut kurz im Lokal vorbei, doch man hat sich nichts mehr zu sagen; Anita vergisst ihren Pulli im Kino und ihr Freund ist sauer; ihre Mitbewohnerin zieht aus. Sie kam aus Frankreich - für Anita eine exotische Welt.
Hinzu kommen die Fotos. Denn Anita hat ein bizarres Hobby. Sie fotografiert die Essensreste ihrer Gäste. Ihr Kollege hält das für krank. Doch Anita begeistert sich für die leergegessenen Teller. Verwüstete Stilleben, aus denen Anita wie aus einem Portrait Rückschlüsse auf die Menschen zieht.
Am Ende ist nicht viel passiert, könnte man meinen, doch "Anita" ist ein höchst ungewöhnlicher Comic, für den man sich Zeit nehmen muss. Anita erweist sich in ihren Tagebucheintragungen als genaue Beobachterin. Riccis expressive, teils schon abstrakte Bilder spiegeln Anitas mitunter von einer einfachen Weltsicht geprägten Reflexionen, in die sich Traumsequenzen und Kindheitserinnerungen mischen, kongenial wieder. Das Album zeichnet sich durch ein durchdachtes Seitenlayout aus, das seine Stärke nicht zuletzt aus der konsequenten Verwendung bestimmter Farben gewinnt. Kalte Blau- und Grüntöne dominieren die Seiten, ein kräftiges Rot tritt hinzu. Man fühlt sich bei "Anita" an die bildgewaltigen Werke von Lorenzo Mattotti, Dave McKean oder des hierzulande leider kaum beachteten Alex Barbier ("Briefe an den Bürgermeister von V") erinnert und doch hat Ricci zu einer eigenständigen Bildersprache gefunden, die allerdings nicht verbergen kann, dass Ricci in seinen Bildern mehr Illustrator denn Erzähler ist. (flo)
Anita
Zeichnungen: Stefano Ricci
Text: Gabriella Giandelli
Übersetzung: Paolo Scotini/Axel Rüzh
Lettering: Andreas Michalke
avant-verlag, Berlin 2001
56 Seiten, Farbe, HC, 34,- DM
(Rezension aus Xoomic Nr. 0/November 2001)
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